Vortrag von Bernhard Siegert
Der zweite Tag der Schöpfung. Das romantische Seestück zwischen Malerei und Physik
Das romantische Erhabene, für das John Ruskin zufolge J.M.W. Turners späte Seestücke exemplarisch sind, ist von einer Ästhetik bestimmt, die in einer Theologie des Unanschaubaren begründet ist. Im 19. Jahrhundert jedoch fällt das Erhabene unter die Herrschaft säkularer technowissenschaftlicher Mächte, die es einerseits vermarktbar, andererseits messbar und wissenschaftlich objektivierbar machen. Es ist ein Konnex zwischen „sensitiven Substanzen“ (wie die Retina oder Silbernitrat) und Ätherschwingungen, der den technowissenschaftlichen Hintergrund des Impressionismus und seinen Vorwegnahmen bei Eugène Delacroix bildet. An die Stelle einer „tiefen Leere“, die nach Ruskins Theorie jedem sichtbaren Objekt vorausliegt, tritt daher in Delacroix‘ Seestücken ein Undarstellbares, das weniger im theologischen Kontext gründet als vielmehr in einem Realen, das als Rauschen nur mittels technischer Medien speicherbar und übertragbar ist. Eine Kunst, die von diesem Erhabenen angestoßen, aber auch erschüttert und durchdrungen wird, muss auf den analogen Autographien des Realen gründen. Mit anderen Worten: Von Menschenhand gemachte Marinemalerei muss von einer Marinemalerei angestoßen und erschüttert werden, die ihr – und das heißt dem Künstler – vorausliegt: eine Malerei des Meeres selbst.
Bernhard Siegert, Dr. phil. habil., ist Gerd-Bucerius-Professor für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken an der Bauhaus-Universität Weimar. Von 2008 bis 2020 war er Co-Direktor des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) in Weimar. Er ist Sprecher der DFG-Forschungsgruppe Medien und Mimesis und leitet das von der NOMIS Foundation geförderte Forschungsprojekt The New Real. Past, Present and Future of Computation and the Ecologization of Cultural Techniques. Siegert hatte Gastprofessuren und Fellowships u. a. an der University of California at Santa Barbara, der New York University, der University of British Columbia (Vancouver), der University of Cambridge, der Universität Stockholm, der Freien Universität Berlin und der Harvard University inne.
Lektionen / Lessons
Im neuen Format der Vortragsreihe Lektionen / Lessons bieten die Kunstsammlungen vertiefende Einblicke in die Hintergründe und Kontexte der Exponate der Ausstellungen in der Gemäldegalerie.
Eintritt frei