Vortrag von Helmut Draxler: Zustand, Situation, Handlung. Das soziale Imaginäre in der holländischen und in der flämischen Malerei
Der Begriff der Gesellschaft wird zumeist mit einer gewissen Selbstverständlichkeit hinsichtlich des Zusammenlebens der einzelnen Individuen gebraucht. Doch gerade darin erweist sich der Begriff als eine historisch spezifische und typisch moderne Vorstellungsweise. Denn weder sind einzelne Menschen immer schon Individuen noch beschreibt Gesellschaft notwendigerweise deren Interaktionsformen. Vielmehr werden in der Moderne Menschen als Individuen sozialisiert; und als Individuen bilden sie wiederum vielfach miteinander konkurrierende Vorstellungen ihres Zusammenlebens aus. Mithin stellt Gesellschaft keine konkrete soziale Form oder Ordnung dar, sondern den symbolischen Horizont eines grundsätzlich individualisierten sozialen Imaginären. Exemplarisch lassen sich die Prozesse der Ausbildung eines solchen sozialen Imaginären anhand der frühneuzeitlichen Malerei studieren. Insbesondere bildet die Teilung der niederländischen Provinzen nach 1585 ein faszinierendes Beispiel dafür, wie die Etablierung der beiden neuen, im Abgrenzungsakt aufeinander bezogenen politischen Entitäten den Bedarf an kollektiven Repräsentationsformen antreibt. Holländische wie flämische Malerei ringen fortan um ein Bild der jeweiligen Gesellschaftsvorstellung, ohne ein solches definitiv instituieren zu können. Gerade als Malerei bleiben die einzelnen Kollektivierungsversuche auf den individualisierten Vorstellungsakt zurückgeworfen, durch den sie sich selbst letztlich als Kunst symbolisieren konnten.
Vortrag in Deutsch
Helmut Draxler, Professor für Kunsttheorie, Universität für Angewandte Kunst Wien. Publikationen: Die Wahrheit der Niederländischen Malerei, Paderborn (Brill-Fink) 2021; Abdrift des Wollens. Eine Theorie der Vermittlung, Berlin, Wien (Turia + Kant) 2017; Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst, Berlin (b_books) 2007.