Prekäres Wohnen in Wien
Ein Projekt am Institut für Kunst und Architektur.
Seit dem Wintersemester 2009 wird die Architekturausbildung an der Akademie durch eine Roland Rainer Stiftungsprofessur für Architekturentwurf und Forschung, finanziert von der Stadt Wien, bereichert Im Studienjahr 2011-12 wurde die Stiftungsprofessur an den Architekten und Architekturtheoretiker Hermann Czech vergeben. Gemeinsam mit der Architektin Daniela Herold leitet und betreut er im Sommersemester 2012 das Studio Prekäres Wohnen in Wien am Institut für Kunst und Architektur. Nicht ohne Bezug auf Roland Rainers Behausungsfrage (1947), in der dieser sich kurz nach dem Krieg mit der Erneuerung des Wohn- und Siedlungsbaus in Wien beschäftigte und Minimalanforderungen an Wohnverhältnisse untersuchte, sollen die Studierenden sich mit der heutigen Situation prekären bzw. bedrohten Wohnens und Obdachlosigkeit auseinander setzen.
Ziel der Lehrveranstaltung ist es, sich den Themen Armut und soziale Ausgrenzung zu nähern, soweit sie sich baulich und räumlich definieren. Diese Annäherung soll nicht nur auf theoretischer Ebene stattfinden, sondern sich durch persönliche Erfahrung und Involviertheit vertiefen. In einer ersten Literatur-Recherche reflektierten die sechs Studierenden des Studios adäquate Methoden der empirischen Sozialforschung. Das Spektrum der Herangehensweisen reicht von persönlicher Kontaktaufnahme mit Betroffenen, Untersuchung der eigenen Wohnverhältnisse, Sammlung relevanter Daten hinsichtlich demografischer und sozialer Verteilung im Stadtgebiet bis hin zu Strukturierung, Dokumentation und Darstellung der Projektergebnisse.In einembegleitenden Seminar soll ein Überblick über die relevante Literatur und die theoretischen, administrativen und politischen Strukturen gewonnen werden.
Trotz anfänglicher Zweifel, ob das Thema sich für eine Entwurfsphase eignen würde, fanden sich doch Ansätze für eine Ausformulierung architektonischer Fragestellungen. Allein die Unterscheidung derjenigen, die eine reguläre Wohnsituation gewohnt sind, von denen, die sich aufgrund ihrer Biografie nicht mehr in eine solche integrieren lassen, liefert grundlegende Aspekte für unterschiedliche Konzeptionen von Entwurfsfragen. Denn die Mindestanforderungen unterscheiden sich im Detail doch ganz wesentlich. So entwickelte der Europäische Dachverband der Wohnungslosenhilfe FEANTSA eine Typologie die zwischen Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit, Ungesichertes Wohnen und Ungenügendes Wohn en Unterschiede definiert, die in der Planung entsprechend berücksichtigt werden müssen.
In einem ersten Schritt suchen die Studierenden Orte im Stadtraum Wien, die sie für einen geeigneten Standort halten und treffen so bereits Aussagen über die konzeptionellen Hintergründe, auf der sie ihre Entwürfe aufbauen.
Chae Ka Eu gelang es mit einem Obdachlosen über Wochen hinweg Gespräche zu führen und ihn auf seinen Wegen durch die Stadt zu begleiten. Die unterschiedlichen Fixpunkte und Anlaufstellen für die Verrichtung der alltäglichen Bedürfnisse, wie Duschen, Zeitung lesen, essen, etc. ermöglichten ihr eine Kartierung des Wohnraums Stadt. Sie fand heraus, dass Obdachlose bevorzugt öffentliche Plätze und Gebäude für sich in Anspruch nehmen, obwohl von Seiten der städtischen Verwaltung versucht wird dies zu unterbinden. Unter dem Motto "Die Stadt gehört dir" imaginiert sie kleinere Einheiten in öffentlichen Gebäuden verteilt über die Stadt und entwirft eine solche beispielhaft in einem alten Gebäudeteil des Westbahnhofs.
Ähnliche Beobachtungen machte Jasmin Leonhard die sich längere Zeit mit dem Praterstern auseinandersetzte. Dieser ist seit jeher ein neuralgischer Treffpunkt für Obdachlose trotz neuer Architektur, Security und anderer Maßnahmen, die dem entgegenwirken sollen. Für eine Fläche zwischen Handeskai und Reichsbrücke in der Nähe des Pratersterns entwickelt sie eine Art Vinzi-Dorf mit 39 einzelnen Wohneinheiten. Die Einheiten sind kreisförmig angelegt und weisen einen spitzwinkeligen Grundriss auf, der sich in einen Garten hin öffnet. Die Ausstattung der Einheiten orientiert sich an grundlegenden Wohnbedürfnissen und soll die Bewohner_innen zu einer dauerhaften Benutzung einladen.
Mit der Schleuseninsel im Donaukanal, die dem Flex vorgelagert ist, beschäftigen sich in ihren Entwurfsplanungen Maximilian Müller und Romana Prokopp. Maximilian Müller untersuchte in der Orientierungsphase Organisationsstrukturen auf minimal kleinen Räumen. Diese Erfahrungen lässt er in seine Entwurfsentwicklung einfließen. Die Kaiserbadschleuse befindet sich an einem zentralen Ort in der Stadt, angebunden an eine städtische Infrastruktur liegt sie in einem Spannungsfeld einer exponierten Lage und ist dennoch eine Insel, die einen Rückzug bietet. Durch effektivste Nutzung der räumlichen Gegebenheit sollen auf dem spitz zulaufenden Baugrund Notschlafstätten, eine Bibliothek, Gemeinschaftsräume, eine Küche, eine Werkstätte, Verweilstätten und auch Siedlungseinheiten für längerfristige Nutzung Platz finden.
Romana Prokopp beschäftigte sich in einer umfangreichen Datensammlung mit den finanziellen Sicherungssystemen in Wien. In einem aufwändigen Diagramm stellt sie, ausgedrückt in Zahlen und Prozenten, die Verteilungslage dar und legt die vergleichsweise hohe Dichte des sozialen Netzes dar. Für die Schleuseninsel entwickelt sie eine schwellenfreie Wohnevolution von variablen Nischen für zeitweise Nutzung über Kleinstwohnungen bis hin zu dauerhaften Wohneinheiten für Paare. Es ist ihr besonders wichtig den individuell unterschiedlichen Bedürfnissen nach punktueller Nutzung von Versorgungseinheiten bis hin zur Notwendigkeit sozialer Gemeinschaft gleichermaßen Rechnung zu tragen.
Auch Bastian Vollert versuchte im Vorfeld die Wiener Bezirke nach sozial relevanten Daten aufgrund der Volkszählung zu klassifizieren und in dreidimensionalen Formen darzustellen. Über Parameter wie Wohnfläche/Person, Ausstattung, Zugänglichkeit, Versorgung und Infrastruktur und bauliche Milieus analysierte er städtebauliche Situationen die mögliche Ausgangslagen für prekäre Wohnverhältnisse sein können. Für einem geschützten Teil noch leer stehender Stadtbahnbögen im Norden der Stadt plant er in mehreren Ausbaustufen Service- und Wohneinheiten, die sich zunächst auf die Bögen selbst beschränken, in weiteren Stufen je nach Akzeptanz und Finanzierbarkeit bis auf das Dach hinauf fexibel erweitern können.
Die strukturelle Situation der Wiener Wagenburg analysierte und dokumentierte Tobias Richter mit Hilfe eines persönlichen Kontakts zu einer Bewohnerin. Vor dem Hintergrund seiner Recherchen plant er mobile Containereinheiten, die niederschwelliges und ressourceschonendes Wohnen ermöglichen sollen, mit bedacht auf die soziale Lage und Kompetenz der Nutzer_innen. Die Konstruktion der Container soll sowohl individuellen Schutz und Rückzugsmöglichkeit bieten als auch sich für gemeinschaftliche Annäherung variabel verändern lassen. Mögliche Standortwechsel sollen ihre funktionale Qualität nicht beeinträchtigen.
Nachhaltigkeit bzw. Dauer der Wohnsituation, Individualität, soziale Integration, Weiterentwicklungspotential durch die Nutzer_innen - all diese Parameter werden in den Entwürfen reflektiert. Durch das Projekt Prekäres Wohnen in Wien wurde am Institut für Kunst und Architektur - durchaus in der Tradition Roland Rainers - ein Diskurs eröffnet, der die zahlreichen Aspekte gesellschaftspolitischer, sozialer und städtebaulicher Forschung anspricht.
(Linda Klösel)