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... eine transversale virale Linie ... die zum Vorschein bringt ...

Beitrag von Iris Julia Gütler, assoziierte Wissenschafter*in der DFG Forschungsgruppe TP 5 Teilhabende Kritik

In diesem Essay wird das Phänomen einer Pandemie, wie diese augenblicklich durch das neuartige Coronavirus (Sars-CoV-2) ausgelöst wurde, in Zusammenschau mit theoretischen Ausrichtungen diskutiert, die sich als Gegenstimmen individualistischer Philosophien lesen lassen: Deren zentraler Kritikpunkt bezieht sich auf die Annahme des Individualismus , dass sich das Individuum [1] zwar in Auseinandersetzung mit einem „Außen“ formiert, jedoch auf Basis einer nichtveränderlichen Substanz, eines Wesens. Dieser nichtveränderliche „innere Kern“ wird mitunter zur Denkfiguren ausgeformt, die vom Neoliberalismus dienstbar gemacht werden, um im Sozialen bestehende Hierarchien und Konkurrenzsituationen zu legitimieren. Der Theoretiker Gerald Raunig ist eine der Gegenstimmen, die diesen Tendenzen zur Hervorhebung eines Individuums entgegentreten: So zeichnet er in seiner Publikation „Dividuum. Maschinistischer Kapitalismus und molekulare Revolution“ (2015) [2] die etymologische Herkunft und Philosophiegeschichte des Terminus „Dividuum“ nach, um diesen für Diskurse sozialer Gegenbewegungen einzusetzen. Dabei zeigt er auf, dass wir eben nicht individuell abkapselbare Entitäten, sondern vielmehr auf eine Weise verfasst sind, die ontologisch als „Mit-Sein“ [3] zu bezeichnen ist und als eine, allem zu Grunde liegende, Verbundenheit gefasst werden kann. Die Bedeutungsebenen des Begriffs Dividuum werden hier nun in Verschaltung mit dem Phänomen eines viralen Erregers, wie dem Sars-CoV-2, diskutiert.

Nicht nur in medizinischer Hinsicht stellen Coronaviren ein neues Phänomen dar, für eine europäische Perspektive ungewöhnlich war zudem deren Ausdehnung auf Regionen, die ein hoher Lebensstandard auszeichnet und die – auf Grund eben dieses Standards – sich in gewisser Weise als immun gegen unreguliert ausbreitendende Krankheiten wähnten. Die Viren durchkreuzen demnach Menschen jeglicher sozialer Herkunft, sowohl als „arm“, als auch als „reich“ geltende Schichten und Regionen. In Anbetracht dieser Überlegung wurde in diesem Essay die von Raunig skizzierte Denkfigur eines non-hierarchischen Dividuums herangezogen, um diese transversale, sich durch alle Teile der Bevölkerung [4] ziehende, Linie theoretisch zu hinterfangen.

Zunächst möchte ich näher auf die etymologische Perspektive, die Raunig in dessen Publikation aufspannt, eingehen, um dem Begriff Dividuum , welcher durch die Jahrhunderte gleichsam ein Schattendasein neben dem Terminus Individuum geführt hatte, Kontur zu verleihen. Zwar lässt sich die Denkfigur des Dividuums bis in die antike griechische Philosophie rückverfolgen, jedoch ortet Raunig eine erste, für gegenwärtige Theoriebildungen griffige Version, in den Kommentaren des Gilbert de la Porrée, Bischof von Poitiers (geb.: Ende des 11. Jh; gest.: 1154). [5] Gilbert von Poitiers erweist sich insofern an heutige Theorien anschließbar, da dieser eine analytische Trennung der Betrachtungsweisen göttlich-theologischer und weltlich-natürlicher Sphären durchführte, eine heikle Denkoperation im Mittelalter, als Herrschaftsverhältnisse noch auf Basis von theologischen Konzeptionen legitimiert wurden. [6]

Gilbert unternahm in seinen Schriften eine dreigliedrige Ausdifferenzierung der Begriffe Person , Individuum und Singularität .  Dabei muss sich keiner dieser Begriffe zwingend auf Menschen beziehen, da die Grundlage für ihn deren begriffliche Ebene, und keine sinnliche Anschauung, bildet. [7] Für den hier entwickelten Zusammenhang ist die Denkfigur der Singularität von besonderem Interesse, da diese mit dem Terminus Dividuum verschaltet wird. Gilberts Philosophie basiert auf einer dualen Denkoperation: Diese differenziert zwischen einem „quo est (wodurch ist etwas)“ und der klassischen ontologischen Denkfigur und Frage nach dem „quod est (was ist)“. Das „quod est (was ist)“ betrifft einen bestimmten Zeitpunkt, eine synchrone Perspektive bildend, während „quo est (wodurch etwas ist)“ eine diachrone Perspektive aufspannt.

In der dreigliedrigen Ausdifferenzierung der Begriffe stellt die Person die kleinste Einheit dar, erfassbar durch die Frage „was ist?“. Der Unterschied, den Gilbert nun zwischen Person und Individuum entwickelt, ist eine logische Konsequenz aus seinem dualen – zwischen „quod est (was ist)“ und „quo est (wodurch ist etwas)“ differenzierenden – Denken. Während die Person ein „quod est (was ist)“ zu einem gegebenen Zeitpunkt meint, bringt der Begriff Individuum das „quod est (was ist)“ und das „quo est (wodurch etwas ist)“ in Zusammenschau: Der Unterschied zwischen beiden Termini betrifft die zeitliche Ebene, da Individualität auch eine diachrone Entwicklungslinie umspannt. Demnach erfasst die individuelle Ausrichtung alle Teile des Ganzen, die „waren sind oder sein werden“ [8] . Auf diese Weise konzipiert Gilbert für die Individualität einen spezifischen, die Zugehörigkeit zu einer Form betreffenden, Ordnungsmodus. Die Individualität bildet eine Ganzheit als etwas Abgeschlossenes und kappt zugleich die Verbindung mit Ordnungsmodi in anderen Dingen. [9] Etwas frei interpretiert könnte man von einem Bruch mit der Verbundenheit zu einer Gesamtheit sprechen.

Für die hier entwickelten Reflexionen in Bezug auf eine virale Ausbreitung quer durch soziale Schichtungen ist von Interesse, dass Gilbert auch einen zweiten, einen transversalen, Ordnungsmodus entwarf, dem er den Begriff der Singularität zuordnete. Diese Form der Sammlung steht nun sowohl quer zu allen Personen , die zu einem bestimmten Zeitpunkt sind (quod est), als auch zu allen Individuen , die als zeitliche Entfaltung konzipiert werden (quo est + quod est). Dieser Modus der Singularisierung – welcher gleichsam doppelt ist, da „quo est“ und „quod est“ durchkreuzend – fasst Gilbert mit dem Terminus Dividuum . [10] Wie Raunig schreibt, impliziert dieser dividuelle Modus, der keine Rücksicht nimmt auf die Zugehörigkeit zu einer individuellen Formation, die Charakteristik der Verstreuung, der Verteilung und der Teilbarkeit. Dabei, und das ist ein zentraler Unterschied zum Begriff des Individuums , bildet diese Verstreuung kein Ganzes aus, stattessen erzeugt der dividuelle Modus Anschlüsse, die sich potentiell unendlich ausdehnen. [11]

Raunig selbst diskutiert diese Form der Streuung und Anschlüsse erzeugenden Verteilung unter anderem in Hinblick auf maschinistisch- dividuelle Formen, etwa die Entstehung von Big Data, die unser Leben immer mehr durchkreuzen und mit-formen. Wenngleich Eigendynamiken entwickelnd, sind diese immer noch auf eine intentional-humane Ebene rückführbar. Wenn ich den Begriff des Dividuums nun als Denkfigur auf einen viralen Erreger wie Sars-CoV-2 übertrage, fällt diese intentional-humane Ebene – welche ja auch im Denken von Gilbert de la Porrée selbst nicht zwingend war – weg. Stattdessen tritt eine, für die Schulmedizin momentan nicht fassbare, Logik der Zirkulation und Durchkreuzung, gleichsam eine transversale Linie spannend, zum Vorschein. Da sich diese auf Regionen ausdehnt, die auf Grund des hohen Lebensstandards als „privilegiert“ und immun gegen Pandemien erachtet wurden, könnte die Verbreitungsbewegung des „Sars-CoV-2“ als non-hierarchisches Dividuum gefasst werden. Doch bildet die transversale Linie, die der Virus quer durch Gesellschaftsschichten zieht, tatsächlich ein Gefüge, das sich als „non-hierarchisch“ bezeichnen ließe? Um diese Frage zu beantworten, übertrage ich die an sich neutrale Denkfigur einer transversalen Linie auf konkrete Lebensrealitäten.

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Da im Normalfall vernachlässigbare Unterschiede in Zeiten der Pandemie von einer medialen Berichterstattung aufgegriffen wurden, wurden diese sichtbar und bildeten auf diese Weise für meine Überlegungen eine Basis. Wen interessiert(e) schon die Wohnsituation Alleinerziehender (meist Mütter)? Deren durchschnittlicher Wohnraum, bestehend aus einem Zimmer, kleiner Küche, in den unteren Stockwerken gelegen und daher meist dunkel, wird – einem allgemeinen Konsens folgend – als menschenwürdig erachtet. Durch die Ausgangssperren begannen nun genau diese unspektakulären Situationen in die Öffentlichkeit zu drängen: Denn eben Personen mit beengter Wohnsituation und Kleinkindern besuchten weiterhin öffentliche Räume, vor allem Parks. Plötzlich wurden Entscheidungen wie diese, um das Leben aushaltbar zu gestalten, als potentielle Gefahrenquelle für Ansteckungen identifiziert. Stimmen aus einem linken Feld, wie die des Strategieberaters Sascha Lobo, hielten diesen Bedrohungsszenarien entgegen, dass Familien im Stuckaltbau mit neun Zimmern und Flügeltüren eine Ausnahmesituation ungleich besser verkraften könnten. [12] Und – wie er an exemplarischen Beispielen nachvollziehbar macht – wurde im Zuge des Ausnahmefalls ersichtlich, dass Entscheidungen jeweils in enger Verschraubung mit einer sozialen und, vor allem auch, finanziellen Situation zu lesen sind (ich visualisierte diese Überlegungen in der von mir gestalteten Grafik).

In eben dieser Kolumne entfaltet Lobo ein gesellschaftliches Spektrum, das übliche Kategorien und Sichtbarkeiten eines medialen Diskurses aushebelt – wen kümmert’s (bisher), ob die unterbezahlte Verkäuferin im Supermarkt, vielleicht meine Kolleg_in aus der Tanzszene, die bei der Supermarktkette „Hofer“ arbeitet, sich von Kund_innen anhusten lassen muss? Niemand, im Normalfall.

Mit dem Coronavirus (Sars-CoV-2) begann jedoch eine dividuelle Linie in unsere Leben zu treten und uns zu durchkreuzen, welche durchschnittliche Arbeitsverhältnisse, von heute auf morgen, als lebensgefährdend erscheinen ließ. Die Ausnahmesituation brachte etwas zum Vorschein, das uns alle betrifft und keine noch so imaginäre Vision individualistischer oder neoliberaler Prägung unter den Tisch kehren kann: Wir alle sind verletzlich, dividuell ausgesetzt, auf andere angewiesen, unterliegen einer, von uns allen geteilten, Bedingung des Mensch-Seins, welche die Literaturtheoretikerin und Philosophin Judith Butler in ihrer Publikation „Frames of War“ (2009) [13] so treffend mit dem Terminus „Vulnerabilität“ fasste. Darüber hinaus brachte die, durch den Virus erzeugte, Ausnahmesituation für mich hier schreibend und überlastet (als Alleinerziehende mit schulpflichtigem Kind) deutlich in Erscheinung, dass ein dividueller Ordnungsmodus mitnichten ein ideales hierarchieloses Miteinander zu begründen vermag. Stattdessen wurden im Sozialraum bestehende Diversitäten zum Vorschein gebracht, die aufzeigten, dass Coronaviren (Sars-CoV-2) uns zwar alle betreffen, jedoch die Betroffenheiten sich wesentlich unterscheiden: Wer wird dieser, von uns allen geteilten, Vulnerabilität ausgesetzt? Wer kann sich schützen oder wird als schützenswürdig erachtet?

Mag. Iris Julia Gütler: Assoziierte Wissenschafter*in der DFG Forschungsgruppe TP 5 „Teilhabende Kritik“, sie arbeitet an einem kulturwissenschaftlichen PhD an der Akademie der bildenden Künste Wien bei Prof. Sabeth Buchmann und Prof. Ruth Sonderegger zur Frage nach Formen und Formaten non-hierarchischer und partizipativer Zusammenarbeit im Bereich Tanz- und Performance;

siehe: https://mediaandparticipation.com/ueber/teilprojekt-5/

www.iris-julian.com


[1] Zu den unterschiedlichen Definitionen des Terminus „ Individuum “ seit der antiken griechischen Philosophie, siehe: Prechtl, Peter/ Burkard, Franz-Peter: “Metzler Philosophie Lexikon: Begriffe und Definitionen”, Stuttgart-Weimar: 1996, S. 233.

[2] Raunig, Gerald: „Dividuum. Maschinistischer Kapitalismus und molekulare Revolution“, Wien, 2015.

[3] Der Philosoph Jean-Luc Nancy setzt individualistischen Philosophien das Denkprinzip des „Mit-Seins“ entgegen, es gibt kein „Sein“ dem danach ein „Mit“ hinzutrete, sondern ein „Mit-Sein“, siehe: Nancy, Jean-Luc: „singulär plural sein“, übers. Schöll, Ulrich-Müller, frz. Original: „Ětre singulier pluriel“, Paris: 1996.

[4] Mit dem Theoretiker Paulo Virno wäre wohl eher von einer „Multitudo“ anstatt einer „Bevölkerung“ oder einem „Volk“ zu sprechen, da letztere ein nationalstaatliches Gefüge unhinterfragt impliziert: siehe: Virno, Paolo: „Grammatik der Multidude“, Wien: Turia + Kant, 2005.

[5] Raunig veröffentlicht eine umfassende Literaturliste, die zu den Kommentaren Gilbers von Poitiers erschienen sind: siehe Raunig: Wien, 2015, S. 68.

[6] Raunig: Wien, 2015, S. 74-75.

[7] Raunig: Wien, 2015, S. 61ff.

[8] Raunig: Wien, 2015, S. 78-79.

[9] Raunig: Wien, 2015, S. 78.

[10] Raunig: Wien, 2015, S. 79.

[11] Raunig: Wien, 2015, S. 79.

[12] Sascha Lobo ist Stragegieberater mit den Schwerpunkten Internet und digitale Technologien, siehe auch „Realitätsschock. Zehn Lehren aus der Gegenwart“, Kiepenheuer & Witsch“, 2019: Lobo, Sascha: „Wider die Vernunftpanik. Essay über Corona-Gesellschaft“, in: „Spiegel Netzwelt“; https://www.derspiegel.de , Hamburg, 18. März 2020: https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/corona-gesellschaft-wider-die-vernunftpanik-kolumne-a-772e1651-f393-4bc6-8f79-79dc7a5ed025?fbclid=-IwAR1DnwZj92JZHGaLCHfzsWxUqGdbr8LU18MWNKzX8_Dq__Tv_mrCF0iKDSU (Zugriff: 11. Mai 2020)

[13] Butler, Judith: „Frames of War. When is Life Grieveable“, London + New York: Verso, 2009.