"NICHT FRAGEN WER WIR SIND, SONDERN WIE WIR TUN" - KOLLEKTIVITÄT NACH LES GROUPES MEDVEDKINE, SCUOLA SENZA FINE UND PRECARIAS A LA DERIVA
Title "NICHT FRAGEN WER WIR SIND, SONDERN WIE WIR TUN" - KOLLEKTIVITÄT NACH LES GROUPES MEDVEDKINE, SCUOLA SENZA FINE UND PRECARIAS A LA DERIVA
Doctoral Candidate Mag. phil. Jul Tirler M.A.
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Study Program Dr.-Studium der Philosophie; Kunst u. kulturwiss. Studien (Stzw)
Abstract Meine Dissertation untersucht Erscheinungsformen und Möglichkeitsbedingungen von Kollektivität ausgehend von den filmisch-politischen Praxen der drei Zusammenschlüsse Les Groupes Medvedkine (1967-1972), Scuola senza fine (1979-1983) und Precarias a la deriva (frühe 2000er Jahre). 1967 treffen sich Filmemacher_innen aus Paris und Fabrikarbeiter_innen in Besançon und gründen Les Groupes Medvedkine. Die Medwedkin Gruppen – neben der Gruppe in Besançon ist ab 1969/70 eine zweite Gruppe im nahegelegenen Sochaux aktiv – produzieren bis 1972 kollektiv Filme, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter_innen sowie deren politische und kulturelle Forderungen zum Thema machen (Barot 2009; Iskra 2006; Vigna 2006). Zwischen 1979 und 1983 realisiert Adriana Monti in Mailand den Film Scuola senza fine (Schule ohne Ende) in einem kollaborativen Prozess mit nicht-erwerbstätigen Frauen, die 1976 in von italienischen Gewerkschaften durchgesetzten, sogenannten 150-Stunden-Kursen ihren Sekundärschulabschluss machen und nach dem Ende des Kursprogramms die Fortbildungskurse selbstorganisiert weiterführen (Frisone 2018; Melchiori 2006; Monti 1988). Ab 2002 organisiert das Kollektiv Precarias a la deriva (“Prekäre Umherschweifende”) wöchentliche derivas („Streifzüge“) in Madrid, bei der eine wechselnde Gruppe von Frauen die Orte aufsucht, die für ihre prekären Arbeits- und Lebenssituationen zentral sind. 2003 veröffentlicht das Kollektiv das Video A la deriva por los circuitos de la precariedad femenina (Streifzüge durch die Kreisläufe feminisierter prekärer Arbeit), das ausgehend von den selbstorganisierten derivas feminisierte prekäre Arbeit in Spanien thematisiert (Precarias a la deriva 2004a, 2004b, 2011).In der Dissertation werden die Möglichkeitsbedingungen von Kollektivität ausgehend von diesen drei Zusammenschlüssen kritisch befragt. Anhand von drei Beispielen künstlerisch-politischer Zusammenschlüsse, die durch ihren gesellschaftspolitischen Anspruch verbunden sind, wird untersucht, auf welche kollektiven Handlungsformen und auf welche Konzepte kollektiver Identitäten diese zurückgreifen und welche Formen von Kollektivität in diesen Prozessen entstehen.Die theoretische Basis dafür bilden Theorien zu kollektiven Identitäten und Handlungsformen (Emcke 2010; Hark 2013; Haug 2018; Mader 2018) im Anschluss an intersektional-feministische Kritik an Kollektivitätsvorstellungen (Anzaldúa 1987, 2009; Crenshaw 1991; Jähnert et al. 2013; Lorde 1984) ebenso wie die Ansätze aus den Studien zur visuellen Kultur/Kulturwissenschaften die von macht- und herrschaftskritischen Ansätzen in feministischen, post/dekolonialen und Queer Theorien ausgehen (Hall 1997, 2000; Schaffer 2008; Schade/Wenk 2011). Die Arbeit folgt somit einem Konzept von Transdisziplinarität, das nicht vom Material, sondern von den Fragestellungen ausgeht.Dazu werden Methoden aus Kulturwissenschaften, Filmwissenschaften und der qualitativen Sozialforschung kombiniert. Ausgehend von einer kritischen Lektüre der von den Zusammenschlüssen produzierten Filme und Texte werden systematische Filmanalysen (Korte 2004; Kuchenbuch 2010) durchgeführt und leitfadengestützte Expert_innen-Interviews (Bogner 2005; Gläser/Laudel 2010; Kruse 2015) mit ehemaligen Beteiligten der Zusammenschlüsse geführt.Die Dissertation ist ein Beitrag zum kulturwissenschaftlichen Diskurs zu Kollektivität aus subjektkritischer Perspektive, indem sie Fragen nach Repräsentation, Positionierung, Privilegien und Machtverhältnissen in kollektiven filmischen Praxen thematisiert.