Sören Grammel | Curator-in-residence 09|10
an der Akademie der bildenden Künste Wien
Sören Grammel
Permanente Spekulation
Die Inhalte meiner Arbeit als Kurator ergeben sich aus der Auseinandersetzung mit Kunst und aus dem Umgang mit ihren ProduzentInnen. Ich glaube, sich den direkten Kontakt mit den KünstlerInnen und ihrer Arbeit als den primären Ausgangspunkt kuratorischer Arbeit zu vergegenwärtigen ist eine Möglichkeit, um das Kuratorische aus dem Bereich des lediglich kunstbetrieblichen Agierens und der Reproduktion kulturpolitischer Ökonomien zu lösen.
Meine Arbeit ist aber auch durch das beeinflusst, was ich im Kino sehe, was ich in Büchern oder Zeitungen lese, was mir Musik vermittelt, was ich beim Umhergehen in der Stadt erlebe und was mir im Fernsehen auffällt. Neben dem direkten Kontakt mit KünstlerInnen suche ich daher die Auseinandersetzung mit Leuten aus anderen Praxisfeldern und deren Arbeit. Kuratorisches Handeln basiert für mich darauf, diese unterschiedlichen Koordinaten und Qualitäten von Erfahrung und Faszination permanent in Beziehung zueinander zu setzen. Das Ziel dieser Arbeit liegt darin, Konstellationen und Perspektiven hervorzubringen, die mir in Bezug auf verschiedene kulturelle Fragen relevant vorkommen.
Neben den konkreten Dingen und Subjekten, mit denen kuratorische Praxis die Auseinandersetzung sucht, ist sie immer zugleich auch das Spiel mit deren Potenzial. Mein Gebrauch des Worts "Potenzial" zielt auf die Formen und Bedeutungen, die Werke oder Gegenstände über ihre kanonischen Erscheinungsweisen – die wir gegenwärtig vor Augen haben – hinaus noch einnehmen könnten. Die Umrisse der Projekte, die durch ein solches Verständnis des Kuratorischen entworfen und realisiert werden, bringen ein andauerndes Wechselspiel von Konturierungen und Verwischungen hervor. Kuratorische Form ist nicht total. Sie “behauptet nicht die These der Identität von Gedanken und Sache” (wie es Theodor Adorno schon für die Form des Essays festgestellt hat [1]). Sondern sie arbeitet mit dem Bewusstsein für die Künstlichkeit und die Temporalität von Wahrheit. Ausstellungen sind imaginäre Orte, temporär möglich gemachte Zusammenkünfte disparater Akteure und Ideen. Es sind Formen, die das Synthetische jeglicher Konzeption herausstreichen. Kuratorische Praxis schafft bewusst instabile Konstellationen, die der Vorstellung von der Wahrheit als einem ›Fertigen‹ widersprechen. Daher ist das Kuratorische auch keine Vermittlungspraxis im Sinne der Idee von Aufklärung als Service oder als einer Schnittstelle zwischen kultureller Produktion und ihren Abnehmerinnen. Sondern das Kuratorische ist eine Vermittlungspraxis, weil sie permanent die Unmöglichkeit des Unvermittelten behauptet. Kuratorische Arbeit bietet keine "Aha"-Erlebnisse. Anteilhabe als etwas Vorproduziertes ist das Wunschgespenst von Politik und Entertainment. Hingegen kann kuratorische Arbeit Situationen hervorbringen, die anderen aufgrund ihrer materiellen sowie immateriellen Produktionen selbst ein Handlungsfeld anbieten; eine Laborsituation für experimentelles Denken. Es ist das Spiel mit gedanklichen Entwürfen und Zusammenhängen – zwischen Aneignung und Auflösung – in das kuratorische Projekte ihre Benutzerinnen mit einbeziehen können. Nicht mehr und nicht weniger.
KuratorInnen realisieren mittels Ausstellungen oder anderer Formate wie Publikationen und sozietärer Aktivitäten besondere Momente, in welchen die oben beschriebenen Prozesse durch Arbeit, Veröffentlichung und Kommunikation mit anderen geteilt, getestet und erlebt werden können. Kuratorische Subjektivität ist eine, die sich gezielt durch andere Dynamiken erfassen und verändern lässt. Ihre Projekte gehen häufig von der Definition einiger Bedingungen aus, mittels deren bestimmte Praktiken innerhalb ihres Rahmens erscheinen können. Zugleich verändert die Dynamik dieser Praktiken sowohl den Rahmen als auch die anfangs gesetzten Bedingungen selber. Irit Rogoff beschreibt im Zusammenhang mit dem performativen Wesen von Kultur die Entstehung von Bedeutung als etwas, “(…) that takes place as events unfold” [2] . Kuratorische Experimente erlauben es, die genaue Bedeutung von etwas so lange offen zu halten, bis sich die Möglichkeit vorab nicht sichtbarer Perspektiven überhaupt erst einstellt.
Gerade das Erarbeiten einer Ausstellung ist in erster Linie immer auch ein sozialer Austauschprozess zwischen Leuten und ihrem Wissen, ihrem Können, ihren Möglichkeiten, ihrem Hintergrund und ihren Ideen. Ich glaube daher, dass gerade die Form der Ausstellung das oben beschriebene kuratorische Arbeiten in besonderer Weise erlaubt, weil sie das Paradox der Gleichzeitigkeit einer Vielzahl von unterschiedlichen, auch gegenläufigen oder widersprüchlichen Chronologien anbietet wie kein anderes Format. Das programmatische Spielen mit Momenten des Aufbrechens eines Projekts in eine Vielzahl von dynamischen Fragmenten macht für mich das besondere Moment kuratorischer Autorschaft in Ausstellungen aus.
Kuratorisches Arbeiten scheint mir da, wo es produktiv ist, nicht darauf ausgerichtet zu sein, vorgefasste Ideen abzubilden oder etablierte Positionen zu bewerben – also bereits bestehende Verhältnisse zu reproduzieren. Sondern es beinhaltet für mich immer diesen Aspekt einer Untersuchung, die ihre Fragen zugleich auf die eigenen Funktionen, Grenzen und Kontexte ausrichtet, in dem sie sie übertritt, ausmanövriert oder ignoriert. Vieles kann dabei entstehen, was überraschend ist; zum Beispiel neue Formen des Umgangs und des Verhältnisses zur Produktion von Inhalten; kritische Definitionen dessen, was wir als "Wissen" oder "Wissensproduktion" bezeichnen; einen interessanten ausstellerischen Umgang mit einer bestimmten künstlerischen Position zu finden oder auch Freiräume zu kreieren, etwas anders zu sehen, als es die Mechanik des Ausstellungsbetriebs vordeutet. Das Kuratorische impliziert für mich diesen auf Veränderung, auf die Aufhebung fixer Bedeutung angelegten Arbeitsansatz – eine Praxis, die Bedeutung offen hält, die fortlaufende Spekulation ermöglicht und welche die institutionellen Regeln und Grenzen, innerhalb deren sie manövriert, durch die Erfindung neuer Bewegungen und Operationen relativiert, ergänzt und verändert.
[1] Theodor W. Adorno. Der Essay als Form
[2] Irit Rogoff. Smuggling - An Embodied Criticality.
Als Kurator hat Sören Grammel (geboren 1971) zahlreiche Ausstellungen für Räume der Gegenwartskunst allein oder mit anderen zusammen kuratiert, darunter “Telling Histories” (2003) und “Total motiviert” (2003) am Kunstverein München, die “Videonale 9” in Bonn (2001), “Raus hier! Eine Ausstellung und Konferenz zum Thema weggehen” (2002) für Germinations Europe in Bialystock (Polen), das Rechercheprojekt “We invite all” als Beitrag für “Whatever happened to Socialdemocracy” (2005) am Rooseum in Malmö oder die Ausstellungen “Eine Munition unter anderen” (2000) und “Kino der Dekonstruktion” (1999–2000) am Frankfurter Kunstverein. 2005 hat er das Theorie-Buch “Ausstellungsautorschaft”, Frankfurt am Main, veröffentlicht. Er lehrte an der Kunsthochschule Kassel (Vorlesungsreihe “Kuratorisches Handeln”) und gab Seminare an der Art Academy Umea und an der Kunstakademie München. Seit 2005 ist er künstlerischer Leiter des Grazer Kunstvereins. Ausstellungen u. a. “Eine Person allein in einem Raum mit Coca-Cola-farbenen Wänden”, “Idealismusstudio”, “Never for money, always for love”, “Es ist schwer das Reale zu berühren” oder “traurig sicher, im Training”. Die Ausstellung “Die Blaue Blume” wurde in der Zeitschrift frieze unter den best-themed-shows 2007 gelistet. Ein vollständiger Katalog der von Grammel kuratierten Ausstellungen und Publikationen findet sich auf der Seite www.soerengrammel.net .